Freifunk - Die Digitale Allmende

Aus Freifunk Franken
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Vom Turm der Zwingli-Kirche in Berlin-Friedrichshain kann der Blick kilometerweit schweifen – und auch Funkwellen haben freie Bahn in alle Richtungen. Ausgerüstet mit Plexiglasscheiben, ein paar Kabeln und einer Bohrmaschine sind Elektra Wagenrad und der Student Bastian Rösner heute hier hinaufgestiegen. Elektra heißt mit bürgerlichem Namen Corinna Aichele, aber »Elektra« passt viel besser zu der Mittvierzigerin. Die beiden wollen die Drahtgeflechte vor den Fenstern ersetzen, weil das Metall gelegentlich den Funkverkehr stört. Schon seit 2006 hängen hier ein paar Antennen, die an flache, unbedruckte Keksbüchsen erinnern; die Kabelage endet in ein paar Tupperdosen. Hightech sieht anders aus – und doch ist das hier ein wichtiger Übertragungspunkt der Berliner Freifunker. Sie gehören zu einer inzwischen globalen Bewegung, die Anfang des Jahrtausends in mehreren Großstädten entstand. Zu deren Entwicklung hat Elektra Wagenrad entscheidend beigetragen. Es geht um den Aufbau urdemokratischer Kommunikationsnetze, die kein Konzern kapern kann. »Wir wollen die digitale Allmende«, bringt Elektra ihr Ziel auf den Punkt, während sie die Bohrlöcher für die Plexiglasscheibe ausmisst.

Allein in Deutschland gibt es schon 43120 Freifunkstädte. Die Teilnehmenden können nicht nur untereinander telefonieren, chatten, Musik, Texte und Filme tauschen oder ein regionales Radio aufbauen. »Wir sind auch in der Lage, Leute mit Internet zu beliefern, die sich das sonst nicht leisten könnten«, erklärt Elektra. Dafür werden vorhandene Anschlüsse mehrfach genutzt. So bekamen auch die Flüchtlinge, die 2013 und 2014 auf dem Berliner Oranienplatz kampierten, einen Online-Zugang.

Anders als bei kommerziellen Providern, deren Infrastruktur aus großen Apparaten und zentralisierten Verbindungswegen besteht, ist bei den Freifunkern alles kleinteilig und dezentral: Jeder angeschlossene Router hilft mit, die Daten der anderen zu transportieren. Zwischen 20 und 60 Euro kostet so ein Gerät, das am besten auf dem Dach oder einem Fensterbrett platziert wird. Funkverbindungen wie die von der Zwingli-Kirche zu anderen Punkten in Berlin sorgen dafür, größere städtische Distanzen zu überwinden.

Angefangen hat die Geschichte für Elektra Wagenrad kurz nach Beginn des neuen Jahrtausends in einem selbstorganisierten Zentrum in Berlin. Damals war sie Anfang 30 und wollte Menschen Open-Source-Programme wie Linux nahe bringen. Nachdem der Verein in ein ehemals besetztes Haus umgezogen war, mussten sie und ihre Kollegen feststellen, dass das Internet dort viel langsamer war: Die Telekom hatte noch keine Breitbandkabel verlegt. »Ohne diese Erfahrung hätten wichtige Episoden in meinem Leben wohl nicht stattgefunden«, lacht Elektra und streicht sich die langen, grauen Haare aus dem Gesicht.

Schon als Kind hatte sie Radios auseinandergenommen und mit Funkgeräten experimentiert. Deshalb kam sie jetzt auf die Idee, das neue Bildungszentrum via Funk mit einem wenige Kilometer entfernten Haus zu koppeln, das über eine leistungsstarke Internetverbindung verfügte. Das klappte gut, und bald wollten andere auch schneller surfen. Doch Elektra ließ sie auflaufen. »Das waren Spießer, die sich nur für ihren eigenen Anschluss interessierten«, meint sie. Das Grüppchen Berliner Freifunker, das sie damals kennenlernte, war ihr dagegen sehr sympathisch: Sie wollten ein Netz aufbauen, das den Nutzenden gehört – ein Gemeingut. Nachdem es anfangs nur ein paar Funkverbindungen zwischen Kulturzentren gab, kam die Idee auf, die damals neue WLAN-Technik so einzusetzen, dass jeder Nutzer zugleich eine kleine Weiterleitstation betrieb.

Darüber verfasste Elektra ihr erstes »Wiki« – ein Onlinedokument, an dem jede und jeder mitarbeiten kann. »Zu meiner völligen Überraschung reagierten viele Leute und waren begeistert«, berichtet Elektra. Schließlich verabredeten sich die Freifunker zu einem Feldversuch mit ihren Laptops und setzten dabei die staatlich entwickelte OLSR-Technik ein – doch es funktionierte schlecht: Die Übertragungsraten waren sehr langsam, immer wieder brachen Verbindungen zusammen. »Die hatten das zu akademisch und zu kostspielig angelegt«, urteilt Elektra über OLSR, das in universitären und militärischen Kreisen entwickelt worden war, etwa um Kriegsschiffe zu vernetzen.

Zunächst versuchten sie und ihre Mitstreiter eine Reform des OLSR-Systems, die darauf basiert, dass jeder Knotenpunkt jederzeit über den Gesamtzustand des Netzes »informiert« ist. Bei einigen Flaschen Bier in Elektras Bauwagen kam ihr und einem Kollegen die Idee für einen grundsätzlich andere Struktur: Das Netz sollte so wie ein Ameisenstaat funktionieren, wo kein Tier einen zentralen Überblick hat und sich alle gegenseitig durch Kontakt mit Nachbarn informieren. Wenn klar ist, in welcher Nachbarschaft sich der Adressat befindet, gilt es nur noch, einen günstigen Verbindungsweg zwischen beiden zu ermitteln. Ein solcher Aufbau reduziert die notwendige Datenmenge radikal und macht das ganze System schneller. Aus diesen Grundüberlegungen entwickelte Elektra zusammen mit anderen Technikfreaks das Routingprotokoll B.A.T.M.A.N., das heute sehr viele Lokalnetze verwenden.

Am Aufbau mehrerer Netze war Elektra direkt beteiligt. So hat sie mit Menschen in einem Armenviertel in Santiago de Chile ein Freifunknetz installiert, und auch in Tansania und Bangladesch war sie in ähnlicher Mission unterwegs. In Indien brachte sie einer internationalen Gruppe die Funktion von B.A.T.M.A.N bei, in Südafrika trieb sie die Forschung zu digitalen Regionalnetzen voran. Inzwischen arbeitet auch die gemeinnützige Gesellschaft »One Laptop per Child« auf ähnlichen technischen Grundlagen. Deren Ziel ist es, mit robusten preisgünstigen Computern Kindern in Entwicklungs- und Schwellenländern den Zugang zum World Wide Web zu ebnen. Elektra freut sich, dass sich solche Konzepte immer weiter ausbreiten: »Mein Traum ist, dass ich irgendwo aus dem Flugzeug steige und es da schon ein Netz gibt und ich es sofort nutzen kann.«

Weltweit gibt es inzwischen in einigen Hundert Städten Freifunknetze. In Berlin existieren gegenwärtig etwa 300 aktive Knotenpunkte und einige tausend Nutzer. Seit Edward Snowdens Enthüllungen verzeichnet die Kerngruppe ein deutlich wachsendes Interesse. Zwar ist auch bei Freifunk nicht völlig auszuschließen, dass sich Geheimdienste einloggen. Doch sie müssten viele einzelne Punkte im Netz abhören und bekämen die Daten nicht gebündelt zu fassen. Die Technik ist für alle Nutzer transparent. »Der Reiz von Freifunk ist, dass er niemandem gehört – und dass das garantiert auch so bleiben wird«, fasst Elektra zusammen. Dann tritt sie den Rückweg vom zugigen Kirchturm zu ihrem Bauwagen an.


CC-BY-SA-NC by Annette Jensen und Ute Scheub
Quelle: gluecksoekonomie.net